Artikel aus DIE ZEIT, Heft 48/2003 

Wie man in Deutschland studiert

Studenten wollen eine Ausbildung mit guten Karrierechancen. Die Universitäten wollen ein konkurrenzfähiges Profil. So sind alle auf der Suche

Von Elisabeth von Thadden

In Jena hat ein junger Mann strenge Bemerkungen über Studenten gemacht, die zielgerichtet studieren, um des Berufs willen. Er hat dies in verschachtelten Sätzen getan, wie sie heute unter Studierenden kaum noch üblich sind. Und zwar in seiner Antrittsvorlesung im Mai 1789, als sich in Versailles die Generalstände zur Nationalversammlung konstituierten. Denkwürdiger Augenblick, viel Vergangenheit im Schlepptau, viel Zukunft im Blick, möglichst die Selbstbefreiung der Menschheit! Was dieser 29-Jährige, lange fast ohne Einkommen und hoch verschuldet, da vortrug, klingt so:

„Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener, dem es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu seinem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann (…) – ein solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudium nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern.“ Ein „Sklavenseele“, wer bloß an sein Einkommen denkt! Meinte Friedrich Schiller vor 214 Jahren, als in Jena etwa 770 Studenten studierten, in seiner Vorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?

Wie das Ideal auf Erden landete

Das war die Flughöhe des Idealismus, dessen Geist die Entstehung der Humboldtschen Universität des 19. Jahrhunderts inspirierte. Diese Universitäten waren die geistigen Zentren des Landes. Bis immer mehr Studierende in die Hochschulen zogen. In Jena sind es heute allein an der Uni fast 19000. Im Westen ging die Öffnung seit den siebziger Jahren mächtig voran, im Namen der Chancengleichheit: 11,3 Prozent eines Jahrgangs hatten sich 1970 eingeschrieben, im Jahr 2000 waren es dreimal so viele, da begann in Deutschland jeder dritte Abiturient zu studieren. Im Wintersemester 2002/03 waren 1930923 Studierende an 359 Hochschulen immatrikuliert, nun wird wohl erstmals die zwei Millionenmarke überschritten, und geht es nach dem Willen von Politikern und Experten, dann soll in Zukunft jeder Zweite studieren. Nur hat die alternde Gesellschaft, die fast alle Mittel für die soziale Sicherheit reklamiert, für die Universitäten zu wenig übrig. Studierende, die merken, dass die Gesellscha ft von Ausbildung wenig hält, sind unsicher, was sie mit ihrer Zukunft anstellen sollen, und zappen sich durch die Möglichkeiten. Seit Jahrzehnten errechnen die Bildungsforscher, wer gebraucht wird, wer nicht, und die Zahl der Studienabbrecher stellt die Qualität der Universitäten gründlich infrage. Der Idealismus ist auf Erden gelandet. Auch in Jena.

Freischwebende Brotgelehrte

Lutz Merbold könnte man, jenseits von Schillers Unterscheidung, einen Freigeist wie einen Brotgelehrten nennen. Im Hauptgebäude der Universität am Fürstengraben in Jena sitzt der junge Mann im Büro des Studentenrats, tief in eine Sofaecke gelehnt. Die Arme verschränkt, Jeans großflächig repariert, sagt er, dass ihn mit der großen Tradition Jenas wenig verbinde. Sicher, die Vorlesungen in Wissenschaftsgeschichte sind interessant. Aber hier studiert er vor allem, weil die Zukunftsaussichten besser sind, vielleicht, und die individuelle Betreuung auch, relativ gesehen. Er will zügig durchkommen und bald einen Beruf haben, der Spaß macht. Etwas an der Uni vielleicht, wer weiß.

Lutz Merbold ist 23, studiert im 7. Semester Biologie, Hauptfach Ökologie, weil das alles von der Botanik bis zur Molekularbiologie vereint. Warum er Biologie studiert? „Da kann man viel draußen sein an der frischen Luft.“ Leichte Ironie schützt vor Pathos, keine Wichtigtuerei bitte.

Natürlich kennt er die Debatten um den Miss-brauch der Biologie, Kommerzialisierung des Lebens, Forschung an embryonalen Stammzellen, alles Felder, in denen er eines Tages situationsabhängig entscheiden werde. Erst dann, zum Glück. Zimmermann hätte er gern gelernt, auch für Kommunikationswissenschaft hat er sich beworben. Er hat ja mal für die Freie Presse in Plauen geschrieben. Aber dann ist es halt Biologie geworden.

Die Friedrich-Schiller-Universität Jena, heute die einzige klassische Volluniversität Thüringens, etwa 12 Prozent der Studenten aus dem Westen, ist keine überfüllte Bildungsruine der westlichen siebziger Jahre. Im Osten gehen weniger Abiturienten an eine Hochschule als im Westen. Etwa jeder Vierte eines Jahrgangs. Die Hochschulen sind überschaubarer. Wie im Westen haben es viele Studenten nicht weit bis ins Elternhaus. Der volle Wochenendzug, der Jena am Freitagmittag verlässt, ist in Erfurt schon ziemlich leer.

Lutz Merbold ist aus Sachsen, ein Akademikerkind aus der Region, aber keineswegs provinziell. Ist ja in Algier eingeschult worden, war nach dem Abitur in Kanada, auf einem internationalen College. Lokal leben, global ausschwärmen. Wichtig sind ihm: Familie, Freunde, die persönliche Freiheit. Und Solidarität. Er erinnert sich, wie die Schwellen der Kirchen im Herbst 1989 vom Kerzenwachs wie zugewuchert waren, da war er erst neun und sagt doch, das habe seine Biografie geprägt.

Die meisten Studenten sind, wie Merbold, beides, Freigeist und erwerbsorientiert. Suchende, die Sicherheit brauchen. Die Universität ist deshalb nur einer unter vielen Aufenthaltsorten: weil zwei Drittel der Studierenden selbst im Semester erwerbstätig sind; weil sich ein Viertel konsequenterweise als Teilzeit-Studierende definiert und auch nur ein Viertel das Studium als Mittelpunkt des eigenen Interesses bezeichnet; weil fast eine halbe Million an praxis-orientierten Fachhochschulen studieren. Und nicht zuletzt, weil die zahlenmäßig stärksten Studienfächer (die Betriebswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft und die Medizin) zwar auf Berufsbilder zielen, aber doch nicht sichere Arbeit versprechen.

Noch vor 40 Jahren galt: Man suchte sich eine gute Uni, und wenn man sich Mühe gab, hatte man bald ein gutes Examen, mit dem ein Job leidlich sicher war. Das Studium war steuerbar. Heute ist die Situation an den Hochschulen so unüberschaubar, dass fast jeder andauernd mit Suchen und Probieren befasst ist. Nun suc n immer mehr Bildungseinrichtungen nach einem Profil in der Masse, in den Hochschulen suchen die Fakultäten, in den Fakultäten suchen die Studiengänge, und nebenher, zwischendrin, suchen die Studierenden. Bis in die Nischen ist ein kühler Hauch von Wettbewerb und Kalkulation zu spüren. Evaluationen und Studienzeitverkürzungen beherrschen die Szene, überall werden Studiengänge neu moduliert.

Vielleicht ist die verwirrendste aber zugleich auch die beste Nachricht: Die Vielschichtigkeit der Hochschulen, Fakultäten und Individuen wirft das Klischee vom mittelmäßigen Langzeitstudenten, der bei Mama wohnt und sich irgendwie durchwurstelt, über den Haufen. Wenn etwas die fast zwei Millionen Studierenden miteinander verbindet, ob sie in Jena, Bremen oder Mannheim studieren, ob an staatlichen Hochschulen oder privaten, an Fachhochschulen oder Universitäten, dann ist es vor allem ihre Verschiedenheit. Es gibt einfallslose Ausbildungstester, effiziente Dünnbrettbohrer und begriffslose Theoretiker, es gibt messerscharf denkende Langzeitstudenten und Blitzschnelle, die nicht wissen, wie’s weitergeht.

Manche Studenten denken auch politisch

Die Unsicherheit in Sachen Zukunft umfasst auch die politische Sphäre. Die „Systemfrage“ ist ein altmodisches Wort. 29 Prozent der Studenten räumen der Politik zwar einen hohen Stellenwert ein, sagt die Forschung (vor 15 Jahren waren es noch 39 Prozent). Zum Engagement, gar zum Protest, entschließen sich nur wenige. Wie im Nebenzimmer des Jenaer Studentenratsbüros. Hier haben Studenten erkennbar die Hochschule zum Zentrum ihrer Arbeit gemacht. Hier wird gerade der Akrützel, „Je-nas Führende Hochschulzeitung“, fertig gestellt, auf der Titelseite der letzten Ausgabe wird die „Wahrheit über Jena“ angekündigt: „Hässlich. Voll. Zu teuer“, auf den Innenseiten erfolgt der Nachweis.

Jemand reicht das Alternative Vorlesungsverzeichnis des Studentenrats herein, darin Veranstaltungen zur fernöstlichen Medizin, zu Afrika, zur Kommerzialisierung des Trinkwassers, Attac ist aktiv. Ein groß angelegter Kongress, Ende November, beleuchtet die „Rolle der Studierendenschaften in Hochschule und Gesellschaft“. Jena war vor 1989 eine Dissidenten-Hochburg. Heute umfasst der Studentenrat Leute vom RCDS, von der FDP, von Attac und kämpft gegen die geplante Zweitwohnsitzsteuer. Der Studentenrat, sagt die Präambel, habe politisch neutral zu sein. „Diese Satzung … nimmt wesentliche Impulse der Demokratiebewegung vom Herbst 1989 auf und gestaltet sie aus.“

Also hat diese Generation doch politische Regungen? Fragen wir Ulrike Losch. „Wer sich engagiert“, sagt die blonde junge Frau, die hinter dem riesigen Schreibtisch des Studentenratsbüros fast verschwindet, „tut es nicht für den Ruhm oder den Erfolg. Die Engagierten haben fast alle kein Geld. Die anderen sind in ihrer Mehrheit karriereorientiert und studieren zügig. In Jena ist der Horizont der Studierenden eng.“ Mancherorts flammt nun aber, wenn auch nicht massenhaft, der Protest gegen Studiengebüh n auf.

Ulrike Losch, 27, studiert im Zweitstudium Psychologie, eine Pfarrerstochter, die in der DDR eine politisch ungemütliche Kindheit hatte, heute Waise ist, die sich ihr gesamtes Studium durch den Job im Studentenrat finanziert. Nach Semestern in Bremen hat Ulrike Losch in Jena den Osten neu schätzen gelernt. „Mehr haben, mehr sein, das zählt hier kaum“, und Ulrike Losch ist froh drum. Ihre Einzimmerwohnung kostet trotzdem 300 Euro, knapp die Hälfte ihres Budgets. Losch studiert Psychologie, weil die Vergangenheiten sie interessieren, die Geschichten der Leute. Eine Klinik, in der Menschen mit Leib und Seele vorkämen, das, sagt sie, wäre eines Tages ein Arbeitsplatz für sie.

Etwas Ordnung für die Vielfalt

Wo immer man die Norm sucht, findet man Abweichungen. Die Hochschulforschung hat dennoch versucht, die Studenten zu charakterisieren. Zum einen sind da die Integrierten, die haben Freunde gefunden, stehen mit Dozenten in Kontakt, identifizieren sich mit ihrem Fach und machen irgendwann ein Examen. Aber es gibt auch jene, die meinen, es merke keiner, wenn sie mal eine Woche nicht an der Uni auftauchten, die über fehlende Beratung klagen, kurz: die in der Masse untergehen. Etwa ein Viertel aller Immatrikulierten bricht das Studium ab, in den Sprach- und Kulturwissenschaften, weiß eine neue Studie, sind es fast drei Viertel, die ohne Abschluss die Hochschule verlassen oder das Fach wechseln. Geistige Wanderarbeiter.

Noch eine Unterscheidung ist entlang der Fachgrenzen zu sehen. Juristen und Ökonomen, hat der Hochschulforscher Tino Bargel aus Konstanz herausgefunden, treten eher selbstbewusst auf, karrierebewusst. Sie halten viel von Leistung und von Wettbewerb, finden Technik und Arbeit wichtiger als Umweltschutz, und auf ihren künftigen Status legen sie Wert – den kennen sie von zu Hause, denn wie die Medizinstudenten kommen sie oft aus bildungsnahen Elternhäusern. Anders die Freigeister in den Humanwissenschaften. Denen ist der Zweife vertrauter, auch die Zukunftsangst. Ihnen liegt an Verständigung und Zusammenarbeit, und die Gesellschaft, in der sie leben, sehen sie skeptisch. Die Sozialforschung betont die Herkunft.

Und was wäre bei so vielen Splitter- und Mikromilieus das Gemeinsame, das allen wichtig ist? Familie, Freunde, das Studium, der Beruf, sagt die Konstanzer Studie von Bargel. Befragt man die Studenten selbst, weisen die Antworten prompt wieder in viele verschiedene Richtungen. Wichtig? „Die persönliche Freiheit“, sagt in der Mannheimer Uni-Cafeteria der Volkswirtschafts-Student Malte Wolff, der von seiner Indienreise erzählt und abends in seiner WG gern kocht oder geigt. „Selbstverwirklichung, wenn man das so nennen kann“, sagt in einer Jenaer Kneipe der fränkische Betriebswirtschaftsstudent Stefan Bug, der ökologisch denkt und am liebsten ein eigenes Haus auf dem Land bauen würde. „Bildung. Und Vertrauen, Treue, Ehrlichkeit“, sagen in Hamburg die Geschichtsstudenten Matthias Matthiessen und Christian Unger, die beim Fernsehen jobben und unlängst mit ihrer früheren Kirchengemeinde in Tansania eine Solaranlage auf einer Grundschule install iert haben.

Der Sog des Pessimismus

Dass die Gesellschaft zu ungeduldig mit ihnen geworden ist, sagen viele Studenten. „Das freie Denken wird im Namen des Sparzwangs überall eingeschränkt. Alles muss in kürzester Frist nützlich sein. Für uns Geisteswissenschaftler interessiert sich doch keiner. Diese gesellschaftliche Skepsis zerfrisst einen“, meint Christian Unger. Auch die Akademiker-Arbeitslosigkeit lastet auf der Freiheit der freiesten Jahre des Lebens. „Heute werden doch selbst Leute mit Top-Studienabschlüssen arbeitslos. Da ist man froh, selbst noch nicht auf dem Arbeitsmarkt zu sein“, sagt der Hamburger Jurastudent Sven Bolt, der gerade ein halbes Jahr in Südafrika studiert hat.

Viele sprechen von einem Sog des Pessimismus, welcher die deutschen Hochschulen zu verschlingen droht. Mit der Frage, wie man klug studiert, stehen die meisten verunsichert und allein da. Tatsächlich reicht ein Studium heute fürs Fortkommen nicht aus, auch ein ausgezeichnetes nicht. Das weiß oder ahnt jeder Studienanfänger. Schließlich haben hinreichend Untersuchungen gezeigt, und die Medien lassen es jeden wissen, dass letztlich Herkunft, Habitus und Zufall über die Chancen mitentscheiden. Jene undefinierbare Mischung aus Elternhaus, Erfahrung, Bildung und Chuzpe. Wer wo eine Chance hat, lässt sich durch Leistung allein kaum steuern. Und Bluffen nütze nichts, sagen die Personalentwickler. Nur wer hat, der hat.

Fragt man die Studierenden, wie sie ihre Generation selbst nennen würden, sagen sie: Wir sind die ängstliche Generation, die suchende, die sicherheitsorientierte, die selbstbezogene, die konsumorientierte, die gleichgültige. Wir sind die Abbrecher. Im günstigen Fall: Wir sind die Realisten. Die Pragmatiker. Wir lernen, uns ans Notwendige anzupassen.

Lauter Selbstbezichtigungen.

Corporate Identity und Integration

Dass Illusionslosigkeit keineswegs depressiv machen muss, kann man an der Fachhochschule Jena studieren. Mag ja sein, dass die Fachhochschulen noch als Ausbildungsstätten gelten, an denen Sicherheitsfetischisten den kurzen Weg in den Job suchen. Das sieht in Jena anders aus. University of Applied Sciences steht draußen dran, gegründet 1991, und diese Hochschule hat sich durch ihre kurzen Studienzeiten von acht Semestern, ihre kluge Studienorganisation und die dichte Betreuung schnell einen Ruf erworben.

In diesem familiären Rahmen, erzählt eine Studentin, lässt es sich leichter studieren. Die Studenten sind selbstbewusst, mit einem Anflug jener Corporate Identity, die gute Hochschulen auszeichnet. „Wir haben einfach mehr Disziplin als die Unistudenten“, sagt einer. Die Zahl der Fachhochschüler steigt. Mit 272 ging es los, heute studieren hier etwa 3200 Studenten.

Morgens um halb neun, wenn die Stadt noch in dichtem Nebel liegt, füllt sich die Cafeteria der Fachhochschule. Zwei osteuropäische Maschinenbaustudenten unterhalten sich auf Englisch über die Tücken des Bügelns, zwei unrasierte Männer mit Zopf beraten über Durchflusssonden. Überall Arbeitsgruppen. Um neun ist an den riesigen Tischen kein Platz mehr frei. Draußen, an den Hängen des leuchtenden Stadtwalds, tauchen aus dem steigenden Nebel die alten bürgerlichen Stadtvillen auf.

Fachhochschüler stammen eher aus bildungsfernen Aufsteigermilieus. Aber auch hier hat die Individualisierung schöne Blüten getrieben. Hier sitzen neben den Zopfköpfen gepflegte Bärte und Glattrasierte, der ratlose Mittelscheitel der Siebziger und die Till-Schweiger-Version des hübschen Kurzhaarigen, hier sitzen dicke Glatzen und Pilzköpfe, geföhnte, gesträhnte, auch die hergebrachte Nichtfrisur aus typischen Männermilieus. Alles dabei.

Amir Abou Alam zum Beispiel, er spricht das schönste Deutsch, das auf dieser Deutschlandreise zu hören war. Der Mann ist 24, studiert Maschinenbau, 8. Semester. Kleiner, feiner Ohrring, eleganter Zopf im schwarzen Haar. Deutscher und ägyptischer Staatsbürger. Eine Biografie zwischen zwei Kulturen scheint der geistigen Beweglichkeit gut zu bekommen. Und wer sich mit solchen biografischen Brüchen aktiv in eine überschaubare Hochschule integriert, kann offenbar viel daraus machen. Gegenwärtig studieren mehr als 200000 ausländische Studenten in Deutschland, das bedeutet – ausnahmsweise mal – den dritten Rang weltweit.

Amir Abou Alam kommt aus Kairo, „das hat mehr Einwohner als ganz Ostdeutschland zusammengenommen“, lacht er und sagt: „Der Teil von mir, der deutsch ist, ist westdeutsch“, obwohl er nie im Westen gelebt hat. In Kairo hat er die deutsche Schule besucht, weil seine Mutter Deutsche ist. Nach Jena kam er ohne den Hauch einer Ahnung, was das für eine Stadt ist, sondern bloß, weil hier sein Bruder studierte. Jena kam ihm immer zu klein vor, aber weil er bald wissenschaftlich, sozial, politisch so gut integriert war, ist er geblieben.

Anerkennung braucht jeder

Er schläft nur fünf Stunden. Der junge Mann arbeitet, neben dem vollen Studienplan, als Hilfskraft, sitzt im Studentenrat und dann noch bei den Jungen Liberalen. Er liest viel und hätte gern Philosophie studiert, wenn er nicht noch lieber seiner Ahnungslosigkeit in Mathe und Physik hätte abhelfen wollen. Nur kein Fachidiot werden. Sicher, die Berufsaussichten haben auch eine Rolle gespielt. Aber gegenwärtig überlegt er, in die Politik zu gehen, da fehle es nämlich an Ingenieuren.

Dann zückt er seinen elektronischen Kalender: Jetzt ist Vorlesung. Im kleinen Hörsaal sitzen 30 Leute, konzentriert. Der Dozent kennt die meisten. Ein Skript und der Vortrag am Laptop ergänzen einander. Es gibt Fragen und Rückfragen. Hier wird man wahrgenommen.

Wahrgenommen werden, das wünschen sich viele. Fast alle Studenten, die man fragt, was sie vom Studium erwarten, bringen das Recht auf Anerkennung zur Sprache, jeder auf seine Weise. „Ohne Anerkennung kann man nicht studieren“, sagt der Hamburger Geschichtsstudent Christian Unger. Und Antje Ebersbach, Fachhochschülerin in Jena, berichtet, wie sie ihr Universitätsstudium aufgab, weil es an der Uni an Orientierung und Anerkennung mangelte. „Da fehlte die Motivation, sich durchzukämpfen.“

Diese Studierenden, auf deren Zukunft die marode Republik lastet, verlangen nicht Mitleid oder bloß Geld, sondern individuelle Aufmerksamkeit für das, was sie können. Sie möchten fachliche wie menschliche Zuwendung und Kritik. Wer sich nach ein paar Semestern noch nicht zurechtfindet, flüchtet.

Die Studenten schätzen den Vergleich mit früheren Generationen nicht, sie haben schon zu oft Verfallstheorien gehört. Sie wollen eine gute Ausbildung und nicht nur Gegenstand von öffentlichen Nützlichkeitserwägungen sein. Immer mehr Studenten fordern deshalb eine bessere Lehre; sie berichten ausdrücklich von dem beglückenden Gefühl: Ich hab was geschafft! und von dem Zorn über Dozenten, die ihnen diese Erfahrung verweigern; die sich nichts einfallen lassen, um der Ausbildung Qualität zu geben und also allen Studierenden eine faire Chance. Dabei ist es an vielen US-Unis üblich, dass in kurzen Abständen, ob wöchentlich oder zweiwöchentlich, Lehrende und Lernende miteinander überlegen, was einer gelernt hat, was daraus folgen könnte. Betreuung durchs Gespräch, nicht nur durch Leistungstests.

Aber in Deutschland hat sich in der Lehre in den letzten zehn Jahren etwas getan, bestätigt der Hochschulforscher Tino Bargel. Der Hamburger Jurastudent Sven Bolt erzählt von einer Dozentin, die in der Vorlesung vom Mitschreiben abrät, um die Hörer dafür einzeln ins Gespräch einzubeziehen. In Freiburg baut ein Soziologieprofessor in seine Einführung alle drei Stunden einen Kurztest zur Überprüfung des Lektüreverständnisses ein. Wieder andere lassen pro Woche einen Essay verfassen. Auch mal auf Englisch. Und die private Internationale Universität Bremen setzt mit der frühen Einbeziehung der Studierenden in die Forschung Standards, an denen andere Maß nehmen könnten.

Auch wenn die Mehrheit noch kostbare Zeit in der Anonymität verliert, machen Studierende inzwischen auch gute Erfahrungen mit dichter Betreuung, zumal, wenn sie sich selbst dafür eingesetzt haben. Sie erzählen davon, wie sie lernten, Referate im festgelegten zeitlichen Rahmen zu halten, wie sie im Seminar Qualitätskriterien entwickelten, wie in Tutorien ältere Studenten für jüngere Verantwortung übernahmen. Auch dies eine der besseren Nachrichten: dass ein gutes Viertel aller studentischen Jobs aus Hilfskraftstellen besteht, die nachweislich zur tegration und zur Erfahrung von Anerkennung beitragen. „Druck“, sagt der Hamburger Geschichtsstudent Matthias, „kann doch auch positiv dadurch entstehen, dass Dozenten Interesse an studentischen Arbeiten zeigen!“

Gute Unis arbeiten für ihren Ruf

In den Massenuniversitäten wie Hamburg, deren Glas- und Betontürme heute wie traurig verfallende Fortschrittshoffnungen wirken, ist besonders zu spüren, wie schwer es für Studierende ist, sich durch die Anonymität einen Weg zu bahnen. Wie leicht, sich treiben zu lassen und der Gesellschaft, die Studiengebühren nicht mehr abgeneigt ist, die alleinige Schuld am Schlamassel zu geben. „Bildungskaufhaus“ hat irgendwer verächtlich in riesigen Lettern an den Hamburger „Philturm“ geschrieben, etwas kleiner steht dort auch „Repression“. Das Gebäude wirkt wie ein Dampfer, dem seine Passagiere und die Zuschauer an Land beim Sinken zusehen, schulterzuckend, ratlos oder zornig.

Im 9. Stock des Philturms, in den es der Fahrstuhl nur ächzend noch schafft, sitzt im hintersten Winkel der Afrika-Experte Andreas Eckert, ein junger Lehrstuhlinhaber um die 40, und meint, die Zeit des Wartens auf besseres Wetter sei vorbei. „Viele Studenten weigern sich zu sehen, dass Studieren eine Investition, ein Luxus ist, der unter Rechtfertigungsdruck steht. Auch wenn man sich selbst als angeschmierte Generation versteht.“

Plädiert er also für Studiengebühren? „Wenn wir von den Studenten Gebühren verlangen, müssen wir ihnen dafür hochwertige Ausbildung und Ausstattung von Bibliotheken und Labors anbieten. Und davon sind wir erschreckend weit entfernt.“ Eckert wünscht den Hochschulen eine breite Lobby und die Bereitschaft, sich erkennbar Reputation zu erarbeiten. Auch in der Öffentlichkeit, in den Vereinen, Verbänden, warum nicht auch in Unternehmen, die dafür die Uni instandhalten helfen. „Wir Dozenten müssen das Selbstbild der Geringschätzung aufknacken.“ Aber das fällt nicht leicht, wenn an einer Hochschule wie der Humboldt-Universität Berlin in den nächsten Jahren von 386 Professorenstellen 90 wegfallen sollen. Wer so für überflüssig erklärt wird, kommt leicht mit dem Selbstwert ins Schleudern.

Ein bisschen Zeit fürs Denken

Klingt alles gar nicht mehr nach Schillers alter Befreiung durchs Denken? Dann verdient jetzt Kirils Jegorovs Aufmerksamkeit. Der russische Lette mit den tiefen Augenringen, 21, dessen Vater bis zum Ende der Sowjetunion in Riga Seemann war, studiert an der Internationalen Universität Bremen. Sozialwissenschaften, die Bremer Mischung aus Politologie, Soziologie, Methodik, Ökonomie und Massenmedien. Jetzt hat ihn der DAAD mit einem Preis dafür ausgezeichnet, dass er sich neben einem exzellenten Studium auch noch um behinderte Kinder kümmert und um das interkulturelle Konfliktmanagement auf dem Campus.

Das scheint ihm aber nun fast zu viel der Ehre zu sein, er hat doch auch in New Mexico, wo er auf einem United World College war, seine Zeit mit psychisch Kranken verbracht, es hilft ihm einfach, sich gesund zu fühlen. Das Studium wird leicht allzu einseitig. Er war noch ein Kind, da hat er sich nach der Befreiung als russischer Lette im eigenen Land plötzlich wie ein Fremder gefühlt. Erst in Amerika hat er entdeckt, dass es verschiedene Deutungen der Sowjetunion gibt, als Beschützer, Befreier, Besatzer. Das wollte er durch ein Studium be er verstehen. Lebhafte geistige Interessen haben einen sozialen Nährboden und sind darauf angewiesen, dass eine Hochschule sie wahrnimmt und fördert. Diese Uni hat Kirils gefunden. An der privaten Bremer Universität treibt man für jeden, den man als Studenten aufgenommen hat, das nötige Geld auf. Jetzt hat die Studienstiftung Kirils Jegorovs in ihre Hochbegabten-Förderung aufgenommen. Er könnte also damit fortfahren, im Studium Gesellsch aften zu ergründen. Nur ist da die Sorge um seine Familie in Riga, die er finanziell unterstützen könnte, wenn er schnell Arbeit fände, ein Konflikt, ein Widerspruch. „Zeit und Freiheit zum Denken“, die braucht er, einer von fast zwei Millionen Studierenden in Deutschland, 214 Jahre nach der Antrittsvorlesung in Jena.

Zeit und Freiheit zum Denken, Herr Schiller.